Verbotene Liebe: Inzest

Dürfen Verwandte Sex haben?
In Deutschland nicht, doch die Gründe dafür sind fragwürdig.

Aus: Univativ 70 | 3/2012

 

Die Geschichte der Geschwister Susan und Patrick ist tragisch. Noch bevor seine Schwester das Licht der Welt erblickt, muss Patrick in ein Heim und wird dann von einer Familie adoptiert. Susan bleibt bei den Eltern. Obwohl sie nicht zusammen aufwachsen, verläuft ihre Kindheit ähnlich: sie werden von ihrem alkoholkranken Vater geschlagen, die Mutter ist überfordert und vernachlässigt die Kinder. Als Patrick 23 ist und Susan 16, lernen sie sich kennen und verlieben sich ineinander. Dass sie Geschwister sind, wissen sie von Anfang an. Trotzdem zeugen sie vier Kinder zusammen. Für ihre Familie sind sie bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen – doch der hat das deutsche Inzestverbot im April bestätigt.

Bei Liebe zwischen Verwandten befällt viele ein Gefühl von Unbehagen oder gar Ekel.

2007 befürworteten 76 Prozent der Deutschen ein Verbot von Inzest. Dieses ist in Paragraf 173 StGB geregelt: Er verbietet den einvernehmlichen Vaginalverkehr von Verwandten in gerader Linie (also Großeltern-ElternKind) sowie Voll-und Halbgeschwistern. Susan und Patrick dürfen in Deutschland also Analverkehr haben oder sich oral befriedigen. Weil sie aber im „klassischen“ Sinne miteinander geschlafen haben, wurde Patrick zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Paragraf soll folglich auch verhindern, dass aus inzestuösen Beziehungen Kinder entstehen.

Dahinter steht das klassische Argument gegen Inzest: die genetische Gesundheit der Nachkommen.

Selbst das Bundesverfassungsgericht führte in der Begründung seines Urteils von 2008 unter anderem die „Volksgesundheit“ an. Diese Argumentation erinnert an die Zeiten des Nationalsozialismus, zu der aus eugenischen Erwägungen Hunderttausende von Menschen sterilisiert und umgebracht wurden. Außerdem ist diese Begründung gefährlich, da das Risiko von Krankheiten oder Behinderungen auch bei anderen Gruppen erhöht ist. Folgt man dieser Logik, dürften Spätgebärende und Menschen mit Erbkrankheiten oder Behinderungen auch keine Kinder mehr bekommen. Anders als die weit verbreitete Ansicht, ist das Risiko zur Weitergabe von genetischen Anomalien bei inzestuösen Beziehungen nur um 1,7 bis 2,8 Prozent höher als bei Nichtverwandten. Eine weitere Studie kam zu dem Ergebnis, dass Fehlbildungen wie Herzfehler oder das Down-Syndrom bei Kindern von Verwandten in 8,7 Prozent, bei Nichtverwandten hingegen in 2,6 Prozent der Fälle auftraten.

Die Empirie beweist also, dass das Risiko zwar höher, aber nicht weit weg von dem der Normalbevölkerung ist.

Aus all den genannten Gründen halten die Experten der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik eugenische Begründungen für unakzeptabel. In dieser Hinsicht ist das Gesetz auch lückenhaft: Wären die Kinder von Susan und Patrick über eine künstliche Befruchtung auf die Welt gekommen, würde das Verbot nicht greifen. Zuletzt wirkt die Argumentation mit der Volksgesundheit ob der Seltenheit von Inzest überzogen: Man schätzt, dass zwei bis fünf Prozent aller Geschwister einvernehmlichen Geschlechtsverkehr haben. Die Datenlage ist jedoch äußerst beschränkt.

Neben gesundheitlichen Erwägungen gilt der Schutz der Familie als eine der wichtigsten Argumente für ein Verbot.

Sind die eigenen Eltern selbst eng verwandt, so kommt es zu Überlappungen in den Verwandtschaftsverhältnissen, die negative Folgen für die Kinder haben könnten – etwa Ausgrenzung oder soziale Isolation. Diese Argumentation stellt jedoch die Realität auf den Kopf: Studien zeigen, dass Geschwisterinzest eine Folge und nicht die Ursache kaputter Familienstrukturen ist. Inzestpaare stammen demnach aus Familien, die von Problemen wie Gewalt, Krankheit oder Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind. Auch ein Zusammenhang von emotionaler Vernachlässigung und Geschwisterinzest besteht.

Inzest ist in diesen Fällen eine Kompensation für emotionale Mängel.

So war es auch bei Susan und Patrick. Sie lernen sich im Sommer 2000 kennen. Kurz vor Weihnachten des gleichen Jahres stirbt die herzkranke Mutter, der Vater streunt als Obdachloser durch Leipzig. Patrick übernimmt Verantwortung für Susan, die schwer vernachlässigt aufwächst. Die beiden kommen sich näher und schlafen miteinander. Psychologische Gutachten werden später feststellen, dass Patrick für Susan ein Glücksfall war, da er sie endlich aus ihrer Isolation befreit hat. Statt Familienstrukturen zu zerstören, schaffen sie sich mit ihren Kindern eine neue Familie und widerlegen damit die Sorge der Gesellschaft und ihrer Gerichte. Letztere verwirklichen diese mit ihrer Rechtsprechung vor allem ein moralisches Inzesttabu mit historischen und kulturellen Wurzeln, das von einer diffusen Inzestscheu getragen wird. Ob diese Scheu sozial erlernt oder gar genetisch bedingt ist, wird kontrovers diskutiert. Gemäß der Hypothese des finnischen Ethnologen Edvard Westermarck entwickeln Menschen, die seit der Kindheit in großer Nähe zueinander aufwachsen, eine natürliche sexuelle Abneigung. Entscheidend ist dabei weniger die biologische Verwandtschaft, sondern die langjährige Nähe.

Die genetische Erklärung einer natürlichen Inzestabneigung nimmt an, dass im neuralen System des Menschen ein Mechanismus verankert ist, der sexuelle Anziehung zwischen Verwandten hemmt. Evolutionsbiologisch könnte dieser entstanden sein, da so eine höhere genetische Variabilität gesichert wird, die zu mehr Resistenz vor Krankheiten führt. Die Studienlage spricht zwar für die Existenz eines solchen Systems, doch ist auch hier das gemeinsame Aufwachsen Voraussetzung für seine Wirksamkeit.

Wo auch immer die Scheu vor Inzest herkommt – rechtfertigt ein diffuses Tabu ein gesetzliches Verbot?

Die Mehrzahl der Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts haben diese Frage bejaht. Dessen Vizepräsident Winfried Hassemer, einer der bekanntesten Strafrechtler Deutschlands, sagte jedoch zu dem Verbot: „Weder eine nebulose […] gesellschaftliche Überzeugung noch eine Strafbarkeit im internationalen Vergleich sind imstande, eine Strafnorm verfassungsrechtlich zu legitimieren.“ Dem Verbot gegen Inzest fehlt es an einer Eigenschaft, die für Strafnormen kennzeichnend sein sollte: Rationalität. Nur weil die Mehrheit etwas abstoßend findet, kann säkulares Recht dieses Gefühl nicht in einem Verbot materialisieren.

Heute spricht sich Susan für ein Verbot aus.

Der „Bild“ sagte sie: „Es ist in Ordnung, dass Inzest strafbar ist. Ich habe Schuldgefühle deswegen. Früher war ich jung und hatte irgendwie Sehnsucht nach Liebe. Aber ich würde das nie wieder machen. Ich würde auch niemandem dazu raten. Mit Patrick will ich nichts mehr zu tun haben.“ Die beiden streiten um das Sorgerecht. Wie bei so vielen Paaren hat die Liebe wohl nicht gereicht. Doch die Frage ist, ob hier eine Beziehung nicht systematisch zerstört wurde. Kaputtgemacht durch immer neue Gerichtsverfahren, Kindesentnahmen, negative Schlagzeilen und systematische gesellschaftliche Ausgrenzung.

Autor: Jean-Pierre Ziegler