Univativ Filmkritik: Beuys

Ein Dokumentarfilm über einen der bekanntesten deutschen Aktionskünstler des 20. Jahrhunderts: Mit seinem erweiterten Kunstbegriff fordert Joseph Beuys ein kreatives Mitgestalten von Gesellschaft und Politik und sieht jeden Menschen als Künstler*in.

„Das erste Produkt menschlicher Kreativität ist der Gedanke“ / ©Bild: Youtube

 

Düsseldorf, Herbst 1965: Eine kleine Menschenmenge steht vor der Galerie Schmela und blickt gebannt durch die Fenster – fasziniert und zugleich unschlüssig, was sie von dem Schauspiel halten sollen, dass sich ihr im Inneren darbietet. Denn an diesem Tag sind die Türen für Besucher verschlossen. Stattdessen lässt sich von draußen beobachten, wie ein Mann mit silbernem Gesicht durch die Galerie spaziert – mit einem toten Hasen auf dem Arm, dem er eins nach dem anderen die Ausstellungsstücke zeigt, mit dem er spricht und sogar über den Boden kriecht.

Wer nun schon das als sehr befremdlich empfindet wird sich wohl im neuen Film „Beuys“ über eben diesen Mann, der dieses Projekt initiierte, immer wieder etwas vor den Kopf gestoßen fühlen. Joseph Beuys, Provokateur, Aktivist, Theoretiker und wohl einer der bekanntesten Künstler des 20. Jahrhunderts, fehlte es nicht an Ideen für ausgefallene Projekte: Für seine Kunst boxte er, ließ sich in Filz einwickeln, lebte mit einem Kojoten zusammen, warf mit Gelatine um sich, ließ in einem Projekt 7000 Eichen pflanzen und erstellte eine „Fettecke“.

Schon zu seiner Zeit stieß er damit nicht immer auf Verständnis: Die besagte „Fettecke“ wurde beispielsweise durch den Fehler einer etwas zu engagierten Putzfrau einfach weggeputzt. Doch hinter all seinen Aktionen steckte immer eine Idee, die weit größer ist. Denn für Beuys ist Kunst nicht bloß Dekoration, sondern eine Waffe, um die Gesellschaft und die ganze Welt zu verändern, wahre Demokratie herzustellen und jedem absolute Freiheit zu ermöglich – er sagt selbst: „Ich bin gar kein Künstler. Es sei denn unter der Voraussetzung, dass wir uns alle als Künstler verstehen, da bin ich wieder dabei.“ Gerade auch diese theoretischen Auseinandersetzungen mit einem „erweiterten Kunstbegriff“ brachten Beuys in eine Liga mit internationalen Künstlern wie Andy Warhol und erklären auch sein starkes politisches Engagement, beispielsweise als einer der Mitbegründer der Grünen.

Ein Film, der Künstler und Originalaufnahmen für sich selbst sprechen lässt

Ganz passend zu Beuys eigenem Kunst- und Weltverständnis ist auch Andres Veiels „Beuys“ keine klassische Biographie. Veiel, selbst ein Vertreter der politisch engagierten Kunst und preisgekrönter Dokumentarfilmer, ist bekannt für die intensive Recherche und Auseinandersetzung mit den Themen seiner Filme. Das merkt man auch diesem Film an: Drei Jahre Entstehungsphase, sechzig Interviews und die Sichtung von Unmengen an Archivmaterial lassen den Film ein authentisches Bild des Künstlers und Menschen Beuys zeichnen, das für sich selbst spricht. Ohne Kommentare oder aufdringliche Musik nutzt Veiel vor allem die Montagetechnik und konzipiert den Film als eine Art Collage aus einem Zusammenspiel von Original-Filmaufnahmen, Fotos und Interviews. Man taucht ein in eine schwarz-weiß Welt aus rauchenden, aufgebracht diskutierenden Politikern, aktivistischen Student*innen und Künstler*innen in Aufbruchsstimmung – und wird sich gerade dadurch nostalgisch und etwas erschrocken bewusst, wie anders sich unsere heutige Welt im Vergleich gestaltet.

„Beuys“ verzichtet größtenteils auf Fakten oder viele Erklärungen. Die wichtigsten Etappen von Beuys Biographie werden zwar beleuchtet, allerdings steht dabei immer seine Kunst im Mittelpunkt. So erfährt man zwar von seiner depressiven Phase nach dem Einsatz als Soldat im zweiten Weltkrieg, den ersten künstlerischen Erfolgen und seiner Tätigkeit als Professor und Lehrender an der Kunstakademie Düsseldorf bis hin zu seiner Entlassung, doch ob er beispielsweise eine Familie gründete, bleibt ungewiss. Aber gerade dadurch macht es der Film leichter, eine Beziehung zwischen Zuschauer und Künstler aufzubauen – man wird mitgerissen von diesem charismatischen Idealisten, der in jedem das Potential zu etwas Größerem sah und immer wieder von neuem seine Theorien erklärte. Trotz des vielen Archivmaterials wird der Film dabei nie langweilig und ist sogar immer wieder unterhaltsam – im Gegensatz zum damaligen Publikum können die Kino-Besucher beispielsweise sehr wohl lachen, als der Künstler zu Semesterbeginn an der Kunsthochschule vor die versammelten Honoratioren von Stadt und Staat tritt und statt eines Vortrags plötzlich beginnt, elch-artige „Öh Öh Öh“-Töne von sich zu geben.

„Beuys ist 30 Jahre nach seinem Tod aktueller denn je.“ – ZDF Aspekte

Doch der Film leistet noch mehr, als den Zuschauern schlichtweg Beuys und seine Kunst näher zu bringen: Ganz besonders zeigt er nämlich auf, wie brandaktuell Beuys Ideen auch heute noch sind und welche Bedeutung sie auch in unserer jetzigen Gesellschaft noch spielen könnten. Schon damals erschienen seine Aktionen vielen als fragwürdig, worunter er trotz seines großen Selbstbewusstseins immer wieder zu leiden hatte. Doch lag das vielleicht nur daran, dass er einfach weiter dachte als andere? Dass seine Visionen so groß waren, dass sie den Horizont der meisten überschritten? Gerade heute bräuchten wir vielleicht mehr denn je einen Freigeist wie Beuys, der dazu anregt, Dinge zu hinterfragen und den Mut zu haben, etwas ändern zu wollen. Eben dies ist der große Verdienst des Films: Er regt zum Nachdenken an – über unseren Begriff von Kunst, die Welt, die Gesellschaft und vor allem über uns selbst.

Autorin: Fanny Reiter


Im Scala ist „Beuys“ zunächst bis zum 24.05. zu sehen. Hier geht’s zu den Spielzeiten.

Bundesweiter Filmstart war am 18. Mai 2017.