Süße, stell dich nicht so an. – Ein Kommentar zu den Silvesterereignissen

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Unsere Autorin ist der Meinung, dass in den Diskussionen rund um die Ereignisse in Köln und Hamburg der Silvesternacht 2015 eines vernachlässigt wird: Die Tatsache, dass sexuelle Belästigung an Frauen alltäglich ist.

Es ist ekelhaft, was da in der Silvesternacht am Hamburger und Kölner Hauptbahnhof passierte. Gruppen junger Männer kreisten systematisch Frauen ein, bedrängten sie und raubten sie aus. Die Bevölkerung gibt sich geschockt, die Polizei spricht von „einem neuen Ausmaß“.

Doch es bleibt nicht dabei. Innerhalb kürzester Zeit entstehen im Netz verschiedene Diskussionen, angefacht von dem, was in dieser Nacht passierte. Besorgte Bürger erheben mahnend den Zeigefinger, erläutern in eigens zugeschriebener moralischer Überlegenheit, sie hätten es ja gleich gewusst. Das kommt eben davon, wenn man diese ganzen Flüchtlinge ins Land lässt.

Was das mit Flüchtlingen zu tun hat?

Nun ja, bei den Tätern handelt es sich augenscheinlich um Südländer. So viel hat die Polizei bereits verraten. Ob sie tatsächlich zu den aktuellen Flüchtlingen gehören oder nicht, kann bisher nicht mit Sicherheit gesagt werden. Und ob diese Information wirklich relevant ist, bleibt an dieser Stelle erst einmal dahingestellt.

Neben dem Diebstahl, steht hier vor allem die sexuelle Gewalt an Frauen im Fokus. Da es sich bei den Männern um Südländer handelt, wird also im nächsten Schritt unterstellt, dies sei eine völlig logische Konsequenz im Zusammenleben mit Südländern – die kennen das ja gar nicht anders, oder? Und so wird aus einer Diskussion um sexuelle Gewalt an Frauen eine erneute Diskussion rund um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.

Viele sehen eben hier den Knackpunkt und verweisen beispielsweise auf das Münchener Oktoberfest oder den Karneval – zwei traditionsreiche, deutsche Veranstaltungen.

„Rund 10 Vergewaltigungen pro Oktoberfest gehen in die Statistik ein – die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt.“, schreibt die TAZ. Gehörte sexuelle Belästigung oder gar Gewalt – auch in eben diesem Ausmaß – vielleicht nicht vorher schon zum deutschen Alltag? Und kann man dann wirklich behaupten, sie sei herkunftsbedingt?

Screenshot Twitter: 5. Januar 2016
Screenshot Twitter: 5. Januar 2016

Ich bin eine Frau, vielleicht eine junge Frau, vielleicht ein Mädchen – das kommt immer auf den Betrachter an. Ich selbst habe schon oft sexuelle Belästigung erlebt. Meist findet diese in der beengten Atmosphäre von Clubs oder Bars statt, wo es nicht weiter auffällt, wenn Mann im Vorbeigehen die Hand kurz auf den Hintern des vor ihm gehenden Mädchens legt. Oder an andere Stellen. Oft hat sich ebendiese Situation so schnell abgespielt, dass ich selbst nicht einmal mitbekommen habe, wer Besitzer besagter Hand war. Manchmal konnte ich auch gerade noch erkennen, wer mich da anfasste, bevor er in der Menge verschwand. In den meisten Fällen würde ich denjenigen aber als deutschen Durchschnitts-Studenten mit Karo-Hemd beschreiben. Und nicht selten reagieren diese Typen auf Empörung durch das Opfer mit: „Süße, stell dich doch nicht so an.“

„Weniger harmlos ist dann schon der Griff in den Schritt. Mir persönlich ist das bisher vier Mal passiert.“

Das mag noch harmlos sein, zählt aber definitiv zu den Anfängen sexueller Belästigung – und passiert regelmäßig. Weniger harmlos ist dann schon der Griff in den Schritt. Mir persönlich ist das bisher vier Mal passiert, drei Mal in Clubs (davon einmal beherzt unter den Rock) und einmal am helllichten Tag, an einem Hamburger U-Bahnhof. Ich hatte etwas länger als normal gearbeitet und wartete am Borgweg auf die U3. Als ich einsteigen wollte, kam mir ein junger Mann entgegen: nicht viel größer als ich, blonde kurze Haare, hellblaue Augen. Er sah mich an, sah an mir runter und griff mir in den Schritt. Gleichzeitig versuchte er meinen Arm zu greifen. Ich reagierte in dieser Situation sehr schnell, schlug ihm ins Gesicht und ließ eine lautstarke Schimpftirade auf ihn los. Er zeigte daraufhin nicht etwa Spuren von Scham oder versuchte den Ort so unauffällig wie möglich zu verlassen, sondern spukte mich an. Ich stieg in die Bahn und die Türen schlossen sich. Auf mich gerichtet waren nun sechs verdutzte Augenpaare. Eine Frau fragte mich schließlich, ob alles okay sei. Ich bejahte. Damit hatte sich die Situation erledigt.

Nicht nur diese Beispiele zeigen, dass sexuelle Gewalt an Frauen längst kein neues Thema ist. Die Empörung, die gerade (berechtigt!) mit den Vorkommnissen aus der Silvesternacht einhergeht ist lediglich die Folge von absoluter Skrupellosigkeit der Täter, verbunden mit einer, für die Behörden weit eindeutigeren Straftat: Diebstahl.

Dass jeden Tag Frauen aufs Neue bedrängt und belästigt werden, ist und bleibt ein Thema der deutschen Gesellschaft. Sicher befinden sich darunter auch einige (junge) Männer mit südländischem Aussehen – aber keinesfalls ausschließlich. Ich möchte nicht glauben, dass Männer in erster Linie von Trieben geleitet sind. Viel mehr nehme ich an, dass Frauen immer noch – natürlich nicht öffentlich – für viele als Personen zweiter Klasse gelten. Irgendwie weniger schlau und irgendwie weniger selbstbestimmt, wehrloser.

„Denn kaum ein Hinterngrapscher würde von sich behaupten, er habe eine Frau schon mal sexuell belästigt.“

Ich möchte an dieser Stelle keinesfalls allen Männern (die zum Teil sicherlich genauso geschockt über das sind, was passiert ist, wie ich es regelmäßig bin) ein solches Denken unterstellen – damit würde ich eben die gleiche Verallgemeinerung vornehmen, wie diejenigen, die behaupten, dies sei ein Problem südländischer Kultur. Aber ich meine, dass ein solches Denken existiert und weiter existieren wird, wenn wir nicht langsam anfangen ehrlicher darüber zu sprechen und es offen anzuprangern. Denn kaum ein Hinterngrapscher würde von sich behaupten, er habe eine Frau schon mal sexuell belästigt.

Den „U-Bahn-Grapscher“, wie die BILD ihn wahrscheinlich nennen würde, habe ich damals nicht angezeigt. Nicht aus Scham oder dergleichen Gefühlen, sondern vielmehr, weil ich davon ausging, dass es wahrscheinlich aussichtslos sei. Heute ärgere ich mich: ich habe resigniert reagiert, das würde ich nicht wieder tun.

Ich denke, dass die Täter der Silvesternacht (und alle anderen, die sich derartiges erlauben) bestraft werden müssen, so wie es das deutsche Gesetzt vorsieht. Vielleicht sind die Strafen an dieser Stelle auch nicht hart genug, aber das ist ein anderes Thema. Und ich denke, dass wir anfangen müssen, größer zu denken und zu verstehen, dass es zwar die einfachste, aber auch die gefährlichste Lösung ist, Übergriffe dieser Art pauschal einer ethnischen Gruppe zuzuordnen. Was daraus resultiert, liegt auf der Hand: Vice berichtete am 5. Januar über organisierte Märsche von Rechten, deren Ziel es sei, Köln „zu reinigen“. Ihr könnt euch denken, was damit gemeint ist.

Eigentlich sollten wir uns doch eher fragen: Wieso hat niemand geholfen? Wieso war die Polizei so heillos überfordert? Wieso wurden erste Anzeigen zu sexueller Belästigung in dieser Nacht gar ignoriert? Vielleicht, weil diese Szenen – auch in diesem Ausmaß – nicht mehr zwangsläufig ungewöhnlich sind und von allen Beteiligten zunächst als harmloser wahrgenommen werden, als sie es sind.

Und am Ende fühlt sich diese Gesellschaft mal wieder fortschrittlicher, als sie es ist und die eigens zugedachte moralische Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen verpufft beim genauen Hinsehen schneller, als die Idee von einer echten liberalen Gemeinschaft.

Und damit ist nun wirklich niemandem geholfen, am wenigsten den Frauen.

Autorin: Kim Torster

Kim Torster

Kim hat Kuwi studiert und war Chefredakteurin bei Univativ. Heute arbeitet sie nicht als Taxifahrerin, sondern als Journalistin. Glück gehabt.

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