Lebst du schon oder likest du noch?

Erst ein paar Hasstiraden und im nächsten Moment überschwängliche Gefühlsbekundungen? Was im ersten Augenblick klingt wie ein Schizophrener mit Tourettesyndrom, ist mittlerweile obskure Realität in sozialen Netzwerken. Und spurlos geht das nicht an uns vorüber.

Nur noch Schatten unserer selbst / (C) flickr - Master OSM 2011
Nur noch Schatten unserer selbst / (C) flickr – Master OSM 2011

Man liest häufig von Terroranschlägen, von rechtem Krawall und immer mehr Missständen. Kein Wunder also, sollte man meinen, wenn wir immer unempfindlicher, kälter reagieren.

Doch beim Lesen der Beiträge in der eigenen Timeline fällt – zumindest mir – auf, dass auch das Gegenteil der Fall zu sein scheint; wer nicht als Langweiler gelten will, muss auffallen. Am besten durch das Hervorheben der eigenen Lebensfreude, ob echt oder vorgetäuscht. (Tatsächlich wirken Menschen auf Facebook positiver als sie eigentlich sind. Zu sehen, was andere Tolles im Leben treiben, während man selbst eben nur Facebook browst, kann möglicherweise sogar zu Depressionen führen.)

Übertreibungen werden zur Normalität. Es reicht nicht mehr aus, etwas nur o.k. zu finden, alles unter „meeega guut“ gilt schon fast als Beleidigung. Ausrufezeichen, die im normalen Sprachgebrauch eigentlich nur selten verwendet werden, mutieren zu Rudeltieren. Smileys werden mittlerweile so inflationär verwendet, dass es sogar ihrem Erfinder zu viel wird. Und man benutzt natürlich nicht den normal grinsenden Standard-Smiley, sondern einen, der sich vor Lachen nicht mehr einkriegt und dabei Freudentränen vergießt.

Versuchen wir so, eventuell unbewusst, uns von der Masse abzuheben, damit der eigene Beitrag nicht im Gedränge untergeht, oder wollen wir etwa durch übertriebene Nettigkeiten unser eigenes Image aufbessern, ohne uns im wahren Leben darum kümmern zu müssen?

Doch wie weit soll das gehen? Wer alles super findet, kann nicht differenzieren. Wenn wir schon die Frau, die wir zufällig im Urlaub kennen gelernt haben, mit virtuellen Überschwänglichkeiten überhäufen, was bleibt dann für die engen Freunde?

Natürlich tun diese übertriebenen Gefühlsbekundungen niemandem weh, allerdings kann diese Euphorie auch leicht ins Gegenteil umschlagen. Ein kleiner Fehltritt, ein unbedachtes Wort und man findet sich selbst im Kreuzfeuer der virtuellen Verachtung wieder.

Es ist halt einfacher, beleidigend zu werden, wenn man dem Gegenüber dabei nicht in die Augen sehen muss. Viel zu leicht lässt es sich vergessen, dass hinter dem Profilbild auch tatsächlich ein Mensch steckt.

Doch beides, sowohl die übertrieben fröhliche Darstellung der eigenen Person, als auch die steigende Bereitschaft, andere aufgrund ihrer Aussagen zu beleidigen, sind Auswirkungen des selben Phänomens: Man gibt sich selbst im Internet schriller und auffälliger, als man es im wahren Leben je wäre.

In beide Richtungen kochen die Emotionen bis an den Rand der Skala. Da wundert es wenig, dass sogar die Facebook-Macher ahnen, dass der „Like-Button“ allein nicht mehr ausreicht. Schließlich will niemand auf „gefällt mir“ klicken, sollte die Katze des lieben Kollegen verstorben sein. Dennoch möchte man Anteilnahme zeigen, am besten ohne großen Aufwand.

Vor einiger Zeit führten die Verantwortlichen bei Facebook daher ein neues Tool ein, bei dem man mit nur einem Klick Emotionen wie beispielsweise Wut, Trauer oder Liebe signalisieren kann.

Ob dies nur ein Akt der reinen Nächstenliebe ist, sei mal dahin gestellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese neue Funktion zum Beispiel für Werbung genutzt werden könnte, die noch persönlicher auf uns abgestimmt ist.

Was ich aber eigentlich sagen will: Vielleicht ist es einfach besser, die eigene Frohnatur in der wirklichen Welt auszuleben und beim nächsten Einkauf lieber den Kassierer freundlich anzulächeln, statt die eigenen Posts mit zig Grinse-Emojis zu schmücken. Oder zu überlegen, ob es notwendig ist, hinter jeden Aussagesatz direkt ein halbes Dutzend Ausrufezeichen zu setzen. Und hin und wieder schadet es vielleicht auch nicht, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, ob meine Worte dem Gesprächspartner gegenüber angemessen sind. Manchmal ist weniger eben doch mehr.

Autorin: Tessa Brandtner