Introvert gone wild! – Besuch bei Fremden

Ich hatte doch einfach nur Heißhunger auf indisches Essen. Doch plötzlich sitze ich bei mir völlig fremden, highen Menschen zu Hause und unterhalte mich über Kautabak und das Mysterium unserer Existenz.


Es ist Donnerstag und mich überkommt die große Lust auf Kichererbsencurry. Fast scheitert es daran, jemanden zu finden, der mir diesen Wunsch am nächsten Tag erfüllen würde und sich als Begleitung anböte. Ich bin Freitag schon so gut wie bereit, alles für ein alternatives homemade Curry zu kaufen, als Janas Nachricht auf meinem Display aufploppte. „Hast du heute Abend schon verplant? Vielleicht bin ich doch da.“ Ich fühle mich fast ein bisschen jämmerlich mit der Antwort, niemanden gefunden zu haben. Ich merke, dass mein Leben nicht besonders gut für spontane Abendausgänge ausgelegt ist, so haben sich doch alle daran gewöhnt, dass ich abends ja eigentlich immer zu Hause bin.

Jana und ich treffen uns Freitagabend beim Indiahaus. Es verspricht, ein sehr entspannter Abend zu werden. Ich erinnere mich an das vegane Magnum, das noch zu Hause in meinem Tiefkühlfach liegt. Mein Nachtisch ist safe. Jana erzählt von ihrem Mitbewohner, dessen Geschwister später ein paar Leute einladen, um ihre Geburtstage nachzufeiern. Sie erzählt von ihren hübschen Wohnungen und ist ganz erquickt von den Geschwistern. Ich bin nach dem Essen gerade im Begriff, die nächste Busverbindung nach Hause rauszusuchen, bis ich verstehe, dass Jana mich zum Geburtstag mitnehmen wollte. „Davon rede ich doch die ganze Zeit!“ Vielleicht war ich mit meinen Gedanken schon zu sehr beim Magnum, ihre Einladung ging jedenfalls völlig an mir vorbei. In mir bricht ein innerer Krieg aus. Willst du da jetzt wirklich mit? Du warst darauf so überhaupt nicht vorbereitet. Und was ist mit dem Magnum? Du könntest dich auch einfach ins Bett chillen und netflixen. Du kennst keine Sau dort und du bist heute sowieso schon am oberen Ende deiner social awkwardness. Vielleicht nicht der beste Tag dafür. Andererseits musst du dir dann morgen keine Gedanken mehr machen, wohin du für den nächsten Text ausgehen sollst. Fast schon eine bequeme Problemlösung. „Du musst nicht“, Jana reißt mich aus meinem inneren Monolog. „Doch doch“, sage ich mit gemischten Gefühlen.

Wir stehen vor der Haustür. Jana freut sich. „Wie ich es liebe“, meine Ironie ist fast greifbar. Ein großer blonder Mann öffnet die Tür. „Hey, ich bin Nils“, wir schütteln uns alle brav die Hände. „Jana“, sagt Jana. „Anna“, sage ich. „Mein Anhang“, sagt Jana. „Seid ihr zusammen oder nur zusammen hier?“, unerwartete Frage, aber ich freue mich über seine Direktheit. „Nicht zusammen“, lächle ich zurück. An der Wohnungstür empfängt uns Johannes, Besitzer der Wohnung, und wirkt wiederum überraschend gestriegelt, aber nett. Jana hatte nicht zu viel versprochen, die Wohnung war wirklich sehr schön (hiervon gibt es leider keine Bilder, da die Anonymität von allen Beteiligten bewahrt werden soll, sorry). Noch immer vom letzten Bananenweizen im Pons erschöpft, nehme ich mir in der Küche ein Glas Wasser und mache es mir im Wohnzimmer auf der Sofalandschaft bequem. Dann sondieren wir erst mal. Einige Namen fallen, die man sich im ersten Augenblick ohnehin nie merken kann, aber tatsächlich scheinen mir die Menschen alles in allem ganz sympathisch zu sein, zumindest zugänglich, was schon weit über meine Erwartungen hinausgeht. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal unter so viele Männern* war, ich bin von der Leuphana zumeist einen höheren Frauen*anteil gewöhnt.

Ich erwische mich, wie ich bereits seit zehn Minuten mit dem Rugbyball spiele, den ich auf dem Sofa gefunden habe. Janas Mitbewohner Jonas ist nun auch da und sein Bruder präsentiert uns eine kleine Schachtel, die Jonas ihm zum Geburtstag geschenkt hat. Erst als wir sie endlich offen haben, sehe ich, dass es Kautabak ist. Für mich ein big deal, da ich in meinem Leben noch nie welches gesehen habe. Ich bin ein richtiges Baby, was jegliches Rauschmittel angeht und gucke gebannt zu, wie Jonas und sein Bruder sich die Dinger in den Mund legen. „Ah, das brennt!“, das Geburtstagskind heult auf. „Wie fühlst du dich jetzt?“, ich beobachte Jonas neugierig. „Man hat voll den Nikotinflash“, er hält mir seine Hand entgegen, die leicht zu zittern anfängt und reißt die Augen auf, „booaah!“ Ich lache und wundere mich wie immer, wieso Menschen sich das selbst antun.

Ich sitze eine Weile allein mit meinem Kräutertee unter der Decke und beobachte das Geschehen. Ein weiteres neues Gesicht schleicht sich in mein Blickfeld. Er und eine mir ebenfalls neue Frau fangen an, mit mir und Jana über Fetische zu reden. „Habt ihr welche?“, er guckt gespannt in die Runde. „Keinen Fetisch, aber starke Arme finde ich schon schön. Solche, in denen man sich mal fallen lassen kann“, die neue Frau veranschaulicht es uns und umarmt sich selbst. Ich weiß nicht wie, aber plötzlich haben wir das feuchtfröhliche Thema verlassen und befinden uns mitten in einer Diskussion über Geschlechterdiskriminierung. Ich rede mich in Rage. Mein Gegenüber versucht mir weiszumachen, dass das in Deutschland doch gar kein Thema mehr sei und ich erschöpfe mich viel zu lange, dagegen halten zu wollen. „Ich fühle mich in diesem Land als Frau diskriminiert. Willst du mir mein Gefühl absprechen?“, frage ich und habe eigentlich schon seit einigen Minuten gar keine Lust mehr, weiter zu diskutieren. „Nein, das will ich nicht, aber…“, ich weiß schon gar nicht mehr, was darauffolgt, sage ihm dass ich kein Interesse habe, dass weiter zu diskutieren. Für einen kurzen Moment vermisse ich meine eigene Leuphana-Bubble.

Es ist 1 Uhr, Jana und ich sind eigentlich bereit zu gehen, als sie plötzlich doch wieder in der Hängematte liegt. Jonas kommt vom Kiffen zurück und gesellt sich zu uns. „Wie fühlst du dich jetzt?“, ich bin noch immer neugierig und er erzählt so gerne. Er mag große Worte und spricht immer wieder vom pflanzeninduzierten Gedankenrausch. Ich verbringe die letzte Stunde des Abends damit, ihm beim Philosophieren zuzuhören. „Hattest du schon mal einen luziden Traum? Es ist so ähnlich. Ich befinde mich bei jedem Rausch in einer Art Tunnel und habe totale Kontrolle über meine Handlung. Ist es nicht total faszinierend, dass sich eine ganze neue Welt auftun kann, außerhalb dieser hier?“, erzählt er und macht eine ausschweigende Bewegung mit den Armen. Irgendwann landet er bei der großen Frage, woher wir kommen, „und ist die Vorstellung nicht komisch, dass die Erde vielleicht schon immer da war oder eben einfach irgendwann plötzlich aufgetaucht ist?“ Er guckt mich vorsichtig und neugierig mit seinen leicht zugedröhnten Augen an, „ist das nachvollziehbar, was ich sage, oder einfach nur abgespaced?“ Ich versichere ihm, dass seine Gedanken Sinn ergeben. „Doch ich muss jetzt leider los. Ich danke dir aber für die sehr interessanten Ausführungen!“, ich helfe Jana aus der Hängematte und Jonas und sein Bruder begleiten uns zur Haustür. Draußen schüttle ich den Kopf und lache laut los. Ich glaube, dass war von allen Ausflügen bisher der Seltsamste.

Und das Magnum, das liegt immer noch in meinem Tiefkühlfach.


Hinweis: Die Namen wurden geändert, um die Anonymität der erwähnten Personen zu wahren.

Foto: pixabay

Anna Stojan

Schreibt in ihrer Kolumne über ihre ersten Erfahrungen im Lüneburger Nachtleben. Genießt sonst eher das Tageslicht und, ganz uneingebildet, ihre eigene Gesellschaft.

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