Im Grunde sind Irre nicht irre

Eine kritische Bestandsaufnahme. Gerade sitze ich in der philosophischen Bibliothek der Mailänder Uni, da teilt eine engagierte und rebellische Studentin undercover rebellische Flyer auf den Tischen aus: „Der Kaffee aus dem Automaten ist der Horror? Du hältst das an der Uni erhältliche Gesöff auch für eine Beleidigung in Pulverform und einer akademischen Lernpause vollkommen unangemessen?“ Daneben unheilsschwangere schwarz-weiß-Bildchen: Eine Kaffeetasse, ein Buch sowie ein brüllendes Tyrannosaurus Rex-Gorilla Gespann nebst der Adresse der Protest-Webseite.Ich kann mir nicht helfen, so als Deutsche finde ich das ein bisschen abgedreht. Aber Kaffee ist unserem Volk ja auch offensichtlich nicht so wichtig. Wenn die Italiener ‚Caffè’ sagen, meinen sie Espresso, wenn Sie‚ Caffè Americano’ sagen, meinen sie das Äquivalent zum deutschen Kaffee oder wahlweise ‚Bestemmia‘, Gotteslästerung. Trotzdem. Selbst als gefährlich halbinformierte Erasmus-Studentin habe ich zumindest mitbekommen, dass die Uni teilprivatisiert werden soll. Da frage ich mich, ob sich die Flyer-Prioritäten in der Studierendenschaft nicht gefährlich verschoben haben. Würde sich das allerdings jeder fragen? Oder ist das nur eine kulturelle Arroganz meinerseits, im linkspolitischen, deutschen Teil meines Gewissens verankert, dem ich auf gewisse Art versklavt bin? Dass die Italiener extrem viel Wert auf guten Kaffee legen, ist eine soziale Tatsache, die man so akzeptieren sollte. Manchmal habe ich Angst, ich könnte hinter Scheuklappen leben, die mir verbieten, einzusehen, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn alle Unis nur privatisiert und in jedem Seminarraum mit Jura-Espressomaschinen ausgestattet wären, aus denen Lavazza-farbene Konzentrationsfähigkeit fließt.

 

Irre sein- was heißt das denn eigentlich? Oder besser: Wie sprechen wir darüber? Im Bezug auf sich selbst würde man wohl seltener sagen „Ich bin irre.“ Schon eher „ich bin ein bisschen irre“ und meinen das entschuldigend, rechtfertigend, fischend-nach-Komplimenten. Zu beiden scheint äquivalent zu sein „Ich bin nicht ganz normal.“ In der ersten UNIVATIV-Ausgabe, die ich im Winter 2005 las, wurden die Studenten verschiedener Studiengänge in Lüneburg nach Motto und Kleidungsstil charakterisiert. Der Stil eines typischen Kuwi: „Individuell“ mit dem Zusatz in Klammern: „Also alles, was bei H&M gerade auf der Stange hängt.“ Motto: „Alles ist historisch geworden“ Ersteres impliziert exemplarisch, letzteres theoretisch: Individualität ist eine Illusion. Ganz normal ist keiner. „Verrückt sein“ scheint ein legitimes Äquivalent. Um verrückt zu sein, muss man vorher irgendwo gestanden haben,

einen „ursprünglichen“ Stand gehabt haben. Doch wer oder was rückt und wann? Wenn der Rückende zwischendurch zum Essen gerufen würde, ist der Verrückte nur halb verrückt oder schon ganz, weil das Rücken schon begonnen hatte? Wann fängt das „irre sein“ an? Nach dem „magischen Moment“ zu suchen, in dem jemand „ursprünglich“ irre wurde, ist mühselig, obwohl derlei Projekte beliebt sind. Nehmen wir zum Beispiel die Vorstellung der linearen Evolutionsgeschichte des Menschen. Irgendwann ist mit dem nächsten Gramm Gehirn dem Affen die Idee, sich auf zwei Beine zu stellen im Begriff, etwas als Werkzeug zu benutzen, quasi mitgewachsen und – Schwupps! – war die Kultur geboren! Heute wissen wir, dass kulturelle Praktiken Einfluss auf die Bildung des Gehirns hatten und wir uns selbst zu dem gemacht haben, was wir sind (Herr Ratzinger, entschuldigen Sie).

Warum also diese fruchtlose Suche nach dem magischen Moment? Weil wir sie gern haben, die einfachen Ursache-Wirkungs-Schemata. Sie geben uns das Gefühl, Herr der Lage zu sein. Wenn ein erwachsener Mensch sabbert, um sich schlägt, beißt, kratzt und es offensichtlich keinen Grund für dieses Verhalten gibt, muss er doch verrückt sein! Dann weisen Ärzte mit bedrückt-gefühlslosen Blicken auf die Gummizelle und meinen „wir können absolut

nicht sagen, was in ihm vorgeht, es tut uns leid.“ Aber kann man denn sagen, was in sich selbst vorgeht, was in den Menschen vorgeht, die uns am nächsten sind? Es scheint lediglich ein gradueller Unterschied, kein substanzieller. Wenn jemand sinnbefreit vor sich herbrabbelt heißt das entweder „irre“ oder „einförmige Exzellenzrhetorik,“ je nach Perspektive. Was als individualpsychologisches Phänomen daherkommt, ist tatsächlich ein gesellschaftliches. Denn wer ist noch verrückt, wenn ihn niemand für verrückt hält?

 

Die letzte UNIVATIV berichtete über den amerikanischen Ureinwohner und Künstler „Seven Deers“, der bei einer Hamburg-Reise einen Deutschen bemitleiden musste. Der Arme stand auf dem gepflasterten Platz vor dem Völkerkundemuseum, hatte seine Kultur verloren und sich statt dessen Dreadlocks geflochten. Direkt hinter ihm sah Seven Deers ganz deutlich seine Ahnen, wie sie ihm ins Ohr flüsterten. Alles, was er wissen musste. Doch er hörte sie nicht. Stimmen zu hören ist also hier erstrebenswert, dort ein Fall für die Couch. Doch woher wissen wir, dass wir nicht von „Psychopathen“ umgeben sind, die aber Super-Stoiker sind und alle Gefühlsregungen, die gesellschaftlich inakzeptabel wären offen zu zeigen, perfekt unterdrücken können?

Gruselig ist es bereits, wenn man 20 Jahre lang mit einem Menschen, den man „Mama“ nennt, auf engstem Raum lebt, und eines unschuldigen Erdbeer-Terassen-Nachmittags im Sommer feststellt: Für diesen Menschen sahen die Farben rot und grün seit 43 Jahren ganz genau gleich aus. Noch grusliger, wenn sie einem erzählt, dass sie es selbst erst gemerkt hat, als sie ihr ältestes Kind zu einem Farbtest begleitete.

 

Wenn eine Gesellschaft denkbar ist, in der Farbblinde blind ob ihrer Farbblindheit herum laufen oder Leute bemitleidet werden, wenn sie keine Stimmen hören, wäre nicht eine Gesellschaft denkbar, in denen ungefähr so ein Text in der Ratgeber-Rubrik einer Jugendzeitschrift steht:

 

Emma, 14*

Hilfe! Ich habe nur eine Persönlichkeit!

Liebes „Dr. Jahreszeiten Team“, alle anderen Mädchen in meiner Klasse haben schon ihre zweite Persönlichkeit, meine beste Freundin hat sie sogar schon mit 11 bekommen! Zu allem Überfluss habe ich mich in Thomas und David aus der 9. verknallt! Jedes Mal, wenn ich sie in der Pausenhalle sehe, wird mir ganz heiß. Ich traue mich aber nicht, sie anzusprechen, ich habe Angst, sie könnten mich abtörnend finden, weil ich noch so unterentwickelt bin. Ich bin echt verzweifelt und weiß nicht mehr, was ich machen soll. Bitte helft mir!

*Name v. d. Red. geändert

 

Dr. Herbst sagt:

Liebe Emma, es ist ganz normal, dass Girls in deinem Alter sich nach Zärtlichkeiten mit Boys sehnen. Dass deine zweite Persönlichkeit noch auf sich warten lässt, sollte kein Grund sein, sie nicht anzusprechen. Jede Beziehung ist individuell. Normale Paare können sogar manchmal mehr Probleme haben als Dreiergespanne!

 

Dr. Winter sagt:

Liebe Emma, sei nicht so ungeduldig. Es stimmt: Die meisten Girls bekommen ihre zweite Persönlichkeit zwischen 11 und 13, aber einige auch erst mit 16! Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass du dich nachts im Bett oft allein fühlst. Obwohl du da vielleicht keinen Bock drauf hast, sprich’ mit deinen Eltern darüber!

 

Fabienne Erbacher