Heimat, Heide, Hakenkreuz

Die Leuphana konstruiert ihre Geschichte: Anmerkungen zu einer Debatte.

Es war die Lüneburger Landeszeitung, die ihre Leser Mitte Mai mit einer großformatigen Fotomontage überraschte: Sie zeigte die Universität Lüneburg inmitten einer klischeehaften Heidelandschaft. „Heidschnucken grasen zwischen den Hörsälen“, titelte das Blatt und bezog sich auf die neuen Freiraumplanungen im Rahmen der Entwürfe für Neubauten auf dem Campusgelände.

Dabei ist die Schaffung von Heideflächen eine Option. Uni-Vizepräsident Holm Keller, um bedeutungsvolle Wortschöpfungen nie verlegen, sprach in diesem Zusammenhang von einem „Heide-like outdoor living space“. Die Heide solle her, um die militärische Struktur der Kasernenanlage aufzubrechen.

Mit einem Mal wird an der Universität über die Vergangenheit gesprochen – das gab es auf dem Weg in die Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts lange nicht. Bei näherer Betrachtung scheint es gerade so, als ob die Universität dabei ist, ihre Geschichte neu zu konstruieren. Denn das „Leuphana-Narrativ“, das derzeit postuliert wird, stützt sich bemerkenswerter Weise nicht auf die naheliegende Institutionengeschichte. Es ist nicht von den Wurzeln in der Lehrerausbildung die Rede – die „alte Universität“ hat ihre Ursprünge in der Pädagogischen Hochschule Lüneburg mit Gründung am 3. Mai 1946. Auch nicht von den Anfängen der Fachhochschule, die 1971 aus den Ingenieursakademien Suderburg und Buxtehude entstand und deren Vorläufer-Institute Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden.

Das neue Geschichtsbild der Leuphana definiert sich stattdessen raumbezogen. Das beginnt beim Namen und findet bei der Bedeutung des Campus-Areals seine Fortsetzung, das nach den Vorstellungen der universitären Deutungseliten zur Heimat der Studierenden werden soll. Das Studium wird dabei mehr als Lebensphase denn als Lehrzeit gesehen. Den Fixpunkt dafür bildet der Campus – als Ort zum Studieren, als Ort zum Wohnen, als Lebensmittelpunkt: Heimat. Die Universität wird dadurch zu einem Raum der Identität, mit dem man sich auch emotional verbinden soll. Da liegt es nicht fern, die austauschbaren, dekonstruktivistischen Entwürfe Daniel Libeskinds mit etwas Lokalkolorit zu würzen und geographisch in Lüneburg zu verorten. Lüneburg? Da war doch was – genau, die Heide!

Ein knorriger Heideschäfer in idyllischer Landschaft: Das mächtige Klischeebild der Lüneburger Heide als urige „Naturlandschaft“ entfaltet bis heute seine Wirkung. Eine Wirkung, der auch die Verantwortlichen der Leuphana erlegen scheinen, wenn sie auf dem Weg zum „Heide-Harvard“ die Schaffung von künstlichen Heideinseln als Idee für den Campus propagieren.

Leider hat die Sache einen Schönheitsfehler: Die Lüneburger Heide ist keine Naturlandschaft, sondern das Ergebnis einer umfassenden Naturzerstörung, eines Raubbaus an der Natur. Sie entstand durch die Abholzung der einstigen Buchen- und Eichenwälder, die etwa in der Lüneburger Saline verheizt wurden. Zurück blieb eine öde Landschaft, in der sich lediglich die anspruchslose Heidepflanze ansiedeln konnte.

Die Popularisierung der Heide als „Naturlandschaft“ setzte erst Anfang des 20. Jahrhunderts ein – im Gefolge des Schriftstellers Hermann Löns und den Kreisen der entstehenden rechtskonservativen Heimatbewegung. Die Heide als derartig politisch konnotierte Landschaft ist kaum zur positiven Identitätsstiftung angetan. Und: Die Heide als Produkt von Naturzerstörung steht diametral dem Bild einer Universität entgegen, deren wesentlicher Schwerpunkt auch in Zukunft der Bereich der Nachhaltigkeitsforschung sein soll. Sowohl in historischer Perspektive wie auch ganz praktisch in der Frage der Umsetzung der Campuspläne – selbst bestehende Heideflächen sind äußerst schwer zu erhalten, geschweige denn neu anzulegen – sind die Ideen alles andere als nachhaltig und zeugen von einer sehr unreflektierten Auseinandersetzung mit dem Themenbereich.

Ähnlich verhält es sich mit der Debatte um die militärische Vergangenheit des Campus-Geländes. Die Scharnhorst-Kaserne wurde in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erbaut. Die Anlage umfasste neben dem heutigen Campus auch ein externes Offizierskasino, das heutige Oberverwaltungsgericht an der Uelzener Straße. Von dieser Vergangenheit, insbesondere der NS-Zeit, möchte man sich abgrenzen – das ist gut und sehr begrüßenswert. Der pauschale Verweis auf „Nazi-Bauten“ reicht da allerdings nicht aus.

Vielmehr ist es zwingend nötig, Licht in die Vergangenheit zu bringen. Denn es ist erstaunlich wenig über die Kaserne bekannt – hier gilt es, Annahmen kritisch zu hinterfragen und zu Differenzierungen bereit zu sein. Stammen die Planungen tatsächlich aus der Zeit des Nationalsozialismus? Oder sind sie deutlich früher anzusetzen?

Das heutige Universitätsgelände gehörte in den 1920er Jahren der Stadt Lüneburg. Die Stadtverwaltung nutzte den „Schnellenberger Kamp“ als Pachtland: Das Gebiet war in zahlreiche kleine und größere Parzellen aufgeteilt, die beispielsweise an Arbeiter und kleine Angestellte verpachtet wurden. Größere Flächen waren an Gewerbebetriebe vermietet, die dort u.a. Sand abbauten. Im Stadtarchiv Lüneburg sind zahlreiche dieser Pachtverträge zwischen der Stadt und den Parzellen-Pächtern überliefert. Der letzte dieser Kontrakte ist datiert vom November 1925 und hatte eine Laufzeit bis zum 1. November 1930. Die Pachtzahlungen enden alle jedoch bereits im Mai 1927. In der zugehörigen Übersichtskarte ist das Gelände rot durchkreuzt und mit dem Vermerk versehen: „Sämtliche Pachtgrundstücke fallen aus, da das Gelände an den Reichs(wehr-) Fiskus verkauft ist.“

Diese Quellenfunde reichen für sich genommen nicht aus, um eine Datierung vorzunehmen, Schlüsse zu ziehen oder gar eine gesicherte Aussage zu treffen. Sie zeigen jedoch, auf welch unsicherem Fundament die Erzählung von der „Nazi-Kaserne“ steht, die womöglich schon Jahre vorher geplant wurde. Statt Quellen sprechen zu lassen, wird munter herumspekuliert – etwa, dass man die Bauten zu Tarnungszwecken mit Walmdächern ausgestattet und das Gelände deshalb auch mit Bäumen bepflanzt habe. Wer sich jemals ein Luftbild des Areals angeschaut hat, wird die Kaserne eindeutig als solche erkennen – das war auch zur Bauzeit so, als dort noch nicht einmal Bäume wuchsen. Es bleibt festzuhalten: Die Diskussion über die Kaserne kann nicht auf Basis flüchtiger Google-Recherchen und mit Texten und Fotos von rechtslastigen Militaria-Webseiten geführt werden. Das ist Geschichtspolitik auf Stammtisch-Niveau.

Vielmehr erscheint es dringend geboten, eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema zu beginnen, die bislang versäumt wurde. Konkret müsste es dabei um zwei Schwerpunkte gehen: Eine vergleichende architekturhistorische Untersuchung sollte die baulichen Anlagen der ehemaligen Scharnhorst-Kaserne betrachten und in Bezug zu anderen Kasernenbauten setzen, um zu klären, ob man in architektonischer Hinsicht von „Nazi-Bauten“ sprechen kann. Vielleicht handelt es sich ja vielmehr um Zweckbauten, die so oder so ähnlich auch zu anderen Zeiten entstanden sein könnten? Auch wäre zu klären, inwieweit die britischen Truppen und die Bundeswehr – letztere immerhin als längster Nutzer – ihre Spuren hinterlassen haben.

Das zweite Desiderat der Forschung betrifft die Untersuchung Lüneburgs als Garnisonsstadt. Mit zeitweilig vier großen Kasernen und weiteren Einrichtungen prägten Soldaten in verschiedenen politischen Systemen über mehr als hundert Jahre wesentlich das Bild der Stadt. Trotz dieser Dimensionen definiert sich die Stadt heute über völlig andere Selbstbilder – willkommen in der Hanse-, Salz- und Universitätsstadt Lüneburg. Die Forschung hat sich diesem Themenfeld bislang nicht gewidmet. Hier besteht dringender Nachholbedarf.

Abgesehen davon, dass die Karte von der Kaserne vermutlich nur gezogen wird, um eine umfassende Umgestaltung des Campusgeländes zu legitimieren: Die Rede von der „Kaserne“ negiert, dass diese seit vielen Jahren eine Universität ist und dass auf dem Gelände eine gelungene und bundesweit beachtete Konversion stattgefunden hat. Die symmetrischen, militärischen Strukturen auf dem Campus sind schon lange aufgebrochen. Dabei wird die Geschichte des Areals erfahrbar gemacht, ohne sie zu verherrlichen. Wer den Campus komplett umgestaltet und sämtliche Spuren der Vergangenheit tilgt – dazu gehören auch Panzerplattenstraßen und Zäune – der setzt sich nicht mit der Vergangenheit auseinander, sondern der verleugnet sie.

„Für mich ist Bauen ein demokratischer Prozess, es bedeutet gemeinsam mit den Menschen zu bauen“, erklärte Daniel Libeskind kürzlich in einem Interview. In diesem Sinne wäre es an der Zeit, das universitäre Know-How einzubinden, um bei der Begründung einer Campusumgestaltung und der Konstruktion einer neuen Geschichte nicht noch tiefer in das Netz von Widersprüchen zu geraten. Das Debakel um den Namen „Leuphana“ sollte doch noch in Erinnerung sein (vgl. Univativ Nr. 49 und 50). Und vielleicht fragt man auch mal diejenigen, die täglich auf dem Campus ein- und ausgehen. Die finden die Gestaltung nämlich jetzt schon wunderbar. Was will man mehr?

Gunnar Maus, ROL