Einfach mal alles anders machen: Unterwegs mit SCHLAU Lüneburg

Queer, das bedeutet von der Norm abweichend, atypisch, anders. Es steht für die LGBT*  Bewegung und ist in den letzen Jahren ein Symbol für Selbstbestimmung und Identitätsfindung geworden. Der SCHLAU e.V. in Lüneburg hat es sich, mittlerweile schon im fünften Jahr, zur Aufgabe gemacht, all denjenigen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität benachteiligt fühlen, eine Stimme zu verleihen.

Eine Freundin nimmt mich zu meiner ersten Begegnung mit dem Verein mit. Ich soll ein Plenum besuchen. Wir kommen zu spät. Die Mitglieder sitzen schon im Kreis, auf recht hübschen grauen Sofas und senfgelben Sesseln im Checkpoint Queer in Lüneburg, einem Treffpunkt für LGBT* Gruppen. Sie sind gerade fertig mit der Vorstellungsrunde für ein paar Interessierte, die, wie ich, das erste mal dabei sind. Also machen wir noch eine, nur für mich. Ich denke gerade darüber nach, wie flauschig der Teppich ist, als ich an der Reihe bin. Mein Wunschpronomen soll ich nennen. Ich wünsche mir “ihr”, wie eine Königin, oder “meins” oder einen “er”. Anscheinend habe ich die Frage nicht verstanden. Vor mir sitzen elf Menschen, so bunt gemischt wie ihre Flagge und alle, wie es scheint, mit einem sehr, sehr großen Herzen. Ich fühle mich ab der ersten Sekunde willkommen und akzeptiert.

Auf der Toilette finde ich später einen Aufsteller mit unzähligen Flyern, manche zum Coming-Out, manche über schwulen Sex und eine ganze Reihe mit einem zu jeder erdenklichen Geschlechtskrankheit. Ich stecke mir einen über Gonorrhöe in die Hosentasche. Man weiß ja nie.

SCHLAU Lüneburg gibt etwa 15-35 Workshops im Jahr. Sie wollen nicht nur erreichen, dass dem Thema mehr Gewicht im öffentlichen Diskurs und in der Politik zugesprochen wird, sondern auch, dass bereits Kinder und Jugendliche damit konfrontiert werden. Sie sollen erfahren, wie normal es eigentlich ist, anders zu sein und gesellschaftliche Vorurteile so gar nicht erst entstehen können. Die Idee zur Aufklärung über Geschlechteridentitäten kam in Deutschland bereits Anfang der 90er Jahre auf. Im Jahr 2000 schlossen sich dann mehrere, eigenständige Projekte zusammen, um das Landesnetzwerk SCHLAU (damals noch “ScLAu”: Schwulen und Lesben Aufklärung) in Nordrhein-Westfalen zu gründen. Mittlerweile gibt es den Verein in fünf Bundesländern, neben NRW auch in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Hessen.

Seit der Gründung des Netzwerks hat sich schon einiges in der Gesellschaft geändert – die gleichgeschlechtliche Ehe etwa ist seit Oktober 2017 möglich und die allgemeine Akzeptanz von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und inter* Menschen hat insgesamt zugenommen. Allerdings zeigt zum Beispiel eine Studie des Deutschen Jugendinstituts aus dem Herbst 2015, dass immer noch acht von zehn befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Diskriminierungen erfahren. 55 Prozent von ihnen im schulischen Kontext. Monisha, Lehramtsstudentin, die schon seit über einem Jahr bei SCHLAU mitarbeitet, erzählt: „Ich hatte in meiner Schulzeit das Gefühl, ich dürfte nur in bestimmten Kategorien leben, also zum Beispiel als Frau mit einem Mann zusammen sein. Ab dem Moment, wo ich mich mehr mit den Themen Gender und Identität in der Gesellschaft auseinander gesetzt habe, habe ich mich befreiter gefühlt, nicht mehr so eingeengt von Konventionen.” Die Mitglieder von SCHLAU möchten den Jugendlichen das jetzt schon ein bisschen früher mit auf den Weg geben, etwa durch Veranstaltungen in Schulklassen.

Auf der Fahrt zum Workshop bin ich nervös. Nicht nur, weil ich von Natur aus ein sehr ängstlicher Mensch bin, jetzt soll ich auch noch vier Stunden in einem Raum mit 20 Hauptschülern und -schülerinnen vom Dorf verbringen. Meine Erfahrungen mit ähnlichen Situationen beschränken sich auf eine einzige, sehr wilde Busfahrt in der siebten Klasse. Noch schlimmer, dass wir dann als Teamer, beziehungsweise Teamer und ich, nichtmal nebeneinander im Stuhlkreis sitzen, um den Jugendlichen gegenüber keine Wand zu bilden. Den Gedanken dahinter finde ich natürlich sehr passend, aber unwohl fühle ich mich in den ersten paar Minuten trotzdem. Ich schaue in die Gesichter der Anwesenden und versuche zu vermitteln, dass ich genau so viel Angst vor ihnen habe, wie sie vor mir.

Als ich mich endlich akklimatisiert habe, überrascht mich die Ehrlichkeit der Teilnehmer*innen. In einer der Diskussionen erzählt Lennard davon, dass er es nicht für verwerflich empfände, zwei knutschende Mädels zu fragen, ob sie ihn wohl mitmachen ließen. Alles klar, denke ich, gut, dass wir hier sind. Nicht, dass es nicht auch in anderen Schulformen solche Vorurteile und Gedanken gäbe, im Gegenteil, hier sind sie bloß offensichtlicher, werden freier ausgesprochen, eigentlich etwas sehr positives. Das ist natürlich alles sehr pauschalisiert und vielleicht überhaupt nicht richtig, aber mein Eindruck.

Der Workshop dauert etwa vier Schulstunden, fühlt sich aber nicht länger an als dreieinhalb. Meine Lieblingsmethode heißt: “Ich/Ich nicht”. Es geht darum, sich jeweils auf einer Seite zu positionieren, wenn eine Aussage vorgelesen wird. Zum Beispiel: “Ich habe schonmal einen Jungen geküsst.”, oder “Ich habe mich schon einmal aufgrund meines Geschlechts benachteiligt gefühlt.” Einmal darf man auch lügen. Ich habe öfter gelogen, aber das weiß ja keiner. Bei der Frage ob man denn geflunkert hätte, stelle ich mich trotzdem auf die “Ich nicht” Seite. Natürlich ist das nicht der Sinn des Spiels, aber ich bin ja auch nur Gast und so richtig wohl mit meiner Identität fühle ich mich jetzt auch noch nicht. Anschließend wird über die Ergebnisse gesprochen. Was ist den Schüler*innen aufgefallen? Mir fällt auf, dass unter ihnen ein großer Bedarf nach einer solchen Diskussion besteht. Die Hospitation macht mir insgesamt sehr viel Spaß, ich darf sogar eine Geschichte vorlesen, zu der die Schüler*innen eine kurze Traumreise machen sollen. Leider verstehen sie die Aufgabe nicht. Lustig ist es dafür umso mehr.

Die Standards für die Methoden kommen meist vom Netzwerk SCHLAU Niedersachsen, sodass alle Städte ähnliche Workshops mit ähnlichen Inhalten anbieten können. Die Teamer können zudem auch Weiterbildungsangebote annehmen. Sie reflektieren jede Veranstaltung gemeinsam, um immer wieder zu justieren, was und wie etwas gesagt wird. Dabei ginge es vor allem darum, die Heteronormativität, die meist schon durch das Elternhaus mitgegeben wird, aufzubrechen. “Durch unsere Arbeit wollen wir den Kindern und Jugendlichen beibringen sich nicht fremdbestimmen zu lassen”, so Monisha. Es hätten sich sogar bereits Kinder in den Workshops geoutet: “Das ist natürlich nicht unser Ziel, aber es ist schön zu sehen, wie sehr wir doch manche durch unsere Arbeit berühren. Viele reagieren zuerst verhalten, aber im Laufe des Vormittags merkt man oft, wie dieses mit Scham behaftete Gefühl immer weniger wird und sich die Teilnehmer*innen zu öffnen beginnen.”

Ich persönlich halte nicht viel vom gendern in Texten – das macht nur die Optik kaputt – und Ampelmännchen mit Rock – wer sagt denn, dass die mit Hose und Hut umbedingt auch einen Penis haben? Ich denke, es ist wichtiger, da anzufangen, wo wir mit allem anfangen: am Anfang. Des Lebens natürlich. Da man sich in der Grundschule erstmal ein paar Jahre schön gegenseitig mit Dreck bewerfen soll und bitte noch nicht mit dem Ernst des Lebens konfrontiert werden, scheint es vernünftig, die Themen Gender und sexuelle Orientierung etwa ab der siebten Klasse anzusprechen. Das würden auch die Erfahrungen des SCHLAU e.V. bestätigen, so Monisha.

Marie-Theres, ebenfalls Vereinsmitglied, frage ich, ob es denn für sie einen Zeitpunkt gab, ab dem sie sich in ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verstanden gefühlt beziehungsweise sich auch selbst so angenommen habe, wie sie ist: “Die Konfrontation mit der eigenen Identität ist ein Prozess. Ich werde nie sagen können, dass ich vollkommen zu meiner Sexualität stehe”, antwortet Marie-Theres. Aber genau das ist es vermutlich, was die Kommunikation zwischen Teamern und Jugendlichen so unkompliziert macht: Sie haben verstanden, dass es auch nach der Schulzeit nicht einfach ist, sich selbst zu verstehen und das dann auch noch anderen in seiner Umgebung beizubringen. Auch dass die Workshopleiter*innen geduzt werden, schafft eine flache Hierarchie zwischen ihnen und den Schüler*innen, damit sich beide Seiten wohl- und beschützt fühlen können. “Ich bin selbst noch in meiner Findungsphase und habe in der Öffentlichkeit noch nicht über meine Identität als Trans* gesprochen”, erzählt die 25 jährige Karen, die ganz neu im Verein ist: “Die Arbeit bei SCHLAU kann mir dann auch persönlich, in meiner eigenen Entwicklung, helfen.” So entsteht also ein Wert für alle Beteiligten. “In den Kollegien sitzen oft auch noch Menschen, die anders groß geworden sind und Berührungsängste mit dem Thema haben”, erzählt Marie-Theres. Auch sie würden durch die Workshops also aufmerksam gemacht, wenn auch eher indirekt.

Die political correctness der Aufklärungs-Bewegung lässt zwar nicht sehr viel Glamour zu, funktioniert aber genau so, wie sie soll: Niemand wird ausgegrenzt. Um political noch mehr zu correcten, findet zwei mal im Jahr in Lüneburg auch die “Queergetanzt” Party statt, die vom Verein ausgerichtet wird. Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder beschützt fühlt und in dem von Hip Hop über Trash bis Techno alles gespielt wird, was irgendjemandem irgendwie gefallen könnte. Auch kommen immer mehr Anfragen für Workshops in höheren Altersklassen, von Eltern zum Beispiel, oder anderem Vereinen. Man gewinnt also den Eindruck, dass das allgemeine Interesse an den angebotenen Themen wächst.

Viele Teamer*innen, mit denen ich gesprochen habe, teilen mein Gefühl davon, dass die Entwicklung des öffentlichen Diskurses zwar durchweg positiv, das Ziel von Gleichberechtigung aber längst noch nicht erreicht ist. Denn diese ist nicht nur eine politische, sondern auch eine menschenrechtliche, eine religiöse und moralische Frage und fordert eine breite Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen und Misständen.

Zum Schluss erzählen mir alle noch von ihrem, zugegeben sehr romantischen, Wunsch nach einer Gesellschaft, in der jeder so sein könne, wie er wolle und Gender und sexuelle Identität nicht mehr eine so große Rolle spielten. So ein Umbruch könne nur von innen entstehen, bekräftigt Marie-Theres. Es müsse einfach mehr miteinander geredet werden und solchen Themen eine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Von Beginn an müsse die Gesellschaft Kindern beibringen, dass Kategorien, die auf Grundlage von biologischen Geschlechtern entstanden, einfach nicht mehr zeitgemäß sind. Und dass im Grunde jeder seine eigene Schublade für sich basteln darf, ob mit Glitzer oder ohne. Queer sein also, einfach anders.

 

 

alle Fotos:  © Michael Wallmüller, bereitgestellt von SCHLAU Lüneburg e.V.